Dr. med. naut. (2002)

Wäre es auf unserem letzten Workshop zu unvorhergesehenen Zwischenfällen gekommen, ich hätte sie sicher allesamt meistern können: Platzwunden nähen, Spritzen geben, Blasen punktieren oder auch Kinder zur Welt bringen. Denn im Februar haben wir den letzten medizinischen Grundlehrgang absolviert, der in Hamburg im Zuge der Ausbildung von (den letzten 20) Schiffsoffizieren durchgeführt wurde. Ziel des Kurses ist die Möglichkeit, an Bord mit einer speziell ausgebildeten Funkärzt:in in Verbindung treten und Bericht erstatten zu können - abgesehen von kleineren Verarztungen, die die zweite Nautiker:in durchführt (vorzugsweise mit einem diabolischen Grinsen im Gesicht).

Wir trudelten also anstelle von Semesterferien in den Räumlichkeiten des ehemaligen Hafenkrankenhauses ein. Dort, zwischen Kiez und Landungsbrücken, erwartete uns zunächst drei Wochen Theorie. Jeder Bereich wurde theoretisch umrissen, angefangen mit Anatomie, über Unfallchirurgie und Zahnmedizin, bis hin zur Gynäkologie (weiß zwar nicht wofür, aber okay) und vielen, vielen anderen Dingen.

Später haben wir in kleinen Gruppen praktische Übungen gemacht. Das war der lustige Teil. Mir wurde ein Armgips angelegt (nachdem der Herr Doktor versucht hatte, mich zu einem Beingips zu überreden, für den ich meine Hose hätte ausziehen müssen). Wir haben uns gegenseitig Herz, Lunge und Bauch abgehört, uns Braunülen gelegt und Blut abgenommen, uns von oben bis unten Verbände angelegt und richtigen, echten Urin untersucht (Pfuibäh!). Wir haben die Bordapotheke zerpflückt, uns in Ohren, Hals und Augen geschaut und lange Schnitte in Gummiarmen genäht. Um uns etwas zusätzliche Pieks-Erfahrung zu verschaffen, hat der über "Spritztechnik" dozierende Doktor uns erlaubt, vom Gummiarm zu unserem Tischnachbarn überzugehen. Dabei hat er heldenhaft die Missbilligung von Dr. Low in Kauf genommen, der dort sozusagen der Chefarzt ist. Am Ende unserer Session (ich hatte zwei Wochen danach einen vielfarbigen Arm) warf er einen verzweifelten Blick auf die blutverschmierte Tischunterlage und meinte "Dr. Low killt mich!". Wir waren ihm sehr dankbar.

Die vierte Woche verbrachten wir im Allgemeinen Krankenhaus Wandsbek. Jeder der vorher ausgesuchten Bereiche wurde einen Tag lang von vier Seeleuten im Pfleger:innengewand heimgesucht. Die Notaufnahme und die Innere Ambulanz haben uns sicher am meisten gebracht. Der Tag auf einer Station war eher überflüssig, Essen austeilen und Kaffee trinken bedürfen nicht mehrfachen Übens, wie wohl auch der Tag im Kreißsaal, den ich aber ganz toll fand. Ich habe Händchen gehalten, als ein strammer, kleiner Mann zur Welt gebracht wurde, über dessen Namen sich die Eltern noch uneins waren. Der Tag im OP war von unserer Praxis an Bord so weit entfernt, dass er eher zu einer Prestigeangelegenheit wurde. Wer ist umgefallen? Wer hat die blutrünstigste OP gesehen? Wen hat der Chefarzt ignoriert und wen angesprochen? Wer durfte an einer willenlosen Patient:in den Puls fühlen? Meine Gruppe hat u.a. dem Einsetzen eines künstlichen Kniegelenkes beigewohnt. Wir wollten fast laut lachen, als der Chirurg nicht Tupfer oder Nadelhalter haben wollte, sondern Säge, Bohrer, Hammer und sogar Meißel! Vielleicht sind die Berufsbilder Chirurg und Schiffsingenieur doch nicht so weit voneinander entfernt, wobei der Chirurg im Vergleich zu uns den großen Nachteil hat, im Falle von totaler Ausweglosigkeit nicht einfach eine Bestellung wegfaxen zu können: ein Stück Patient:in, neu oder überholt, Best.-Nr. 123456.

Am Ende der vier Wochen sind ein Multiple-Choice-Test, den wir alle bestanden haben, vielleicht auch, weil Dr. Low trotz angestrengter Miene unsere wortlosen Diskussionen nicht bemerkt hat. Der Lehrgang hat uns ganz prima gefallen und als kleines Dankeschön werden wir alle Doktor-Hasis zu unserer alljährlichen Sommer-Grillparty auf unsere Terrasse mit Elbblick einladen. Und dann werden wir, die Nautiker:innen, Techniker:innen, Frauen und Ärzt:innen, es so richtig krachen lassen!

MW

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