Bordalltag und Corona (2020)
Über den Bordalltag in der großen Fahrt mit Corona, und das ist alles andere als einfach - über die Herausforderungen, Absurditäten, aber auch erfreulichen Erlebnisse in den letzten fast viereinhalb Monaten ließe sich ein ganzes Buch schreiben, nur führen sie alle miteinander auch zu sehr langen Arbeitstagen, so dass es sich eher um ein paar Schlaglichter handelt, die ich in späten Feierabendstunden der letzten Tage zusammengestellt habe.
Im Bordalltag auf See hat sich zunächst organisatorisch gar nicht so sehr viel geändert außer der Einführung zusätzlicher Hygiene- und Reinigungsmaßnahmen oder der Schließung der Sauna... solange kein Außenkontakt besteht, lebt unsere große Bordfamilie ja in perfekter Isolation. Mit den ersten Besatzungswechseln stellte sich dann die Frage, welche Isolationsmaßnahmen und für wie lange Zeit verhältnismäßig sind, und es ist nicht immer ganz einfach, sehr unterschiedliche Gewohnheiten (z.B. hinsichtlich des Händewaschens) in einer über 20-köpfigen Familie auf einen akzeptablen Mindeststandard zu bringen. Für die Hafenaufenthalte überlegen wir immer aufs Neue, wie wir die Kontakte minimieren und die Besatzung am besten schützen können. Erfreulich ist, dass sich die Anzahl der das Schiff heimsuchenden Behördenvertreter drastisch reduziert hat (und es wegen der Masken und des Abstandsgebotes in den chinesischen Häfen praktisch keine Bitten mehr um Selfies mit Frau Kapt. gibt), weniger erfreulich, dass lokale Regeln von den an Bord kommenden Personen teils nicht eingehalten werden und z.B. Lotsen regelrecht beleidigt oder aggressiv reagieren, falls wir es wagen, sie zu bitten, entsprechend der Anweisung ihrer eigenen Gesellschaft über die Außentreppe zur Brücke zu gehen. Aber diese kleinen Hakeleien lassen sich mit Augenmaß gut lösen (dann fährt eben der Lotse allein im Lift nach oben und direkt anschließend wird dort einmal desinfiziert).
Die großen Herausforderungen lagen und liegen immer noch vor allem in drei Bereichen - der zusätzlichen Arbeitsbelastung, der Organisation der Besatzungswechsel und dem Wohlergehen der Besatzung in dieser Ausnahmesituation:
Was ist das allerwichtigste während dieser Pandemie? Hygiene? Abstand? Maske tragen? Aber nein, Papier hilft viel besser gegen Viren... zumindest kann man diesen Eindruck gewinnen in meinem Fahrtgebiet zwischen Japan, Südkorea, China, Hong Kong und Australien, und da ja alle das Virus loswerden möchten, bittet man die Schiffe dabei um ausführliche Mitwirkung: Begrüßt wird man schon frühzeitig mit bis zu acht Emails mit jeweils einem Bündel Formularen - überall mit demselben oder ähnlichen Inhalt, aber in einer Vielzahl verschiedener Formate, so dass der ohnehin zeitraubende Papierkram für die Einklarierung zu einer Vollzeitbeschäftigung wird. Zusätzlich zu diversen neuen Fragebögen fürs Schiff ist oft pro Besatzungsmitglied eine ganzseitige individuelle Gesundheitserklärung auszufüllen, bitte in der jeweils grad aktualisierten Fassung, und für dasselbe Formblatt gelten in drei Häfen desselben Landes unterschiedliche Ausfüllregeln, die mit vielen Ausrufezeichen und Hervorhebungen kommuniziert werden: Unbedingt oder keinesfalls Kreuze oder Häkchen setzen, für nicht Zutreffendes "No" oder "NIL" oder aber gar nichts eintragen, bitte keinesfalls oder unbedingt das Feld ausfüllen, ob man in den letzten 14 Tagen einen PCR-Test gemacht hat, und um sicher zu gehen, dass auch jedes Besatzungsmitglied den Bogen persönlich beantwortet hat, muss er in einem Hafen komplett von Hand ausgefüllt werden (nicht einmal der Schiffsname und die Telefonnummern von Agentur und Schiff dürfen eingedruckt werden). Vor dem Einlaufen sind Antworten auf dieselben Gesundheitsfragen in vier und mehr verschiedenen Formaten an alle, die in irgendeiner Weise mit dem Schiff zu tun haben könnten, zu versenden, oder eine "List of essential workers" muss vorgelegt werden, und nur diese Besatzungsmitglieder dürfen dann auf die Pier, um das Gangwaynetz zu riggen oder den Tiefgang abzulesen.
Der Papierwust ist lästig, die entscheidende Herausforderung ist für mich über den gesamten Einsatz aber die Ablösung meiner Besatzung gewesen. Schon bei meinem eigenen Einsteigen (im Juli, es war der erste Crewwechsel auf der Santa Catarina seit Februar) zeichnete sich ab, dass eine auch nur halbwegs verlässliche Planung bis auf weiteres ein Wunschtraum ist: Erst nachdem ich bereits unterwegs war nach Japan, bekam mein Kollege die Bestätigung von den Behörden, dass er - als einmalige Ausnahme - aussteigen darf, obwohl das Schiff nur 13,5 und nicht 14 Tage zwischen Auslaufen Brisbane und Ankunft in Osaka vorweisen konnte (bis zum tatsächlichen Abmustern waren die 14 Tage übrigens erfüllt...). Jede einzelne Ablösung gestaltet sich als komplexes Puzzlespiel: Gibt es überhaupt einen Ablöser, der gültige Dokumente hat (für die Gesundheitskarte usw. gibt es zwar Verlängerungsregeln, für Pässe aber nicht) und die Quarantäne- oder Ausreiseregeln seines Landes erfüllt? Darf er ins Einstiegsland einreisen und unter welchen Bedingungen? Wie lange darf er dort bleiben zwischen Ankunft des Fluges und des Schiffs? Gibt es dafür einen passenden Flug, muss man bei einer bestimmten Fluggesellschaft noch zusätzliche Regeln erfüllen? Bei der ersten Frage ist für uns an Bord nur das Ergebnis entscheidend, während die Crewing-Abteilungen schon vorab mit Unmengen von Details gerungen haben. Die weitere Organisation kann hingegen überhaupt nur mit intensiver Mitwirkung von Bord gelingen. Die lokalen Regeln sind überdies so unterschiedlich und ändern sich so schnell, dass eine Planung "wie beim letzten Mal" kaum gelingen kann, sondern jedes Detail aufs Neue geklärt werden muss.
Für diejenigen, die es interessiert, folgt jetzt das Puzzlespiel und seine Variationen über zwei Rundreisen im Detail für unsere paar Häfen, in denen überhaupt Besatzungswechsel erlaubt sind (sonst einfach nach dem kursiven Absatz weiterlesen): In Japan wurde zunächst ein PCR-Test am Flughafen gemacht, das Ergebnis bekam man nach ca. sechs Stunden, dann ging es unter Auflagen ins Hotel, Wartezeiten waren erlaubt, aber nicht notwendig. Eine Reise später war am Flughafen stattdessen ein Antikörpertest verpflichtend, inzwischen hatte China aber eingeführt, dass jeder, der innerhalb von 14 Tagen vor dem ersten chinesischen Hafen eingestiegen ist, einen PCR-Test aus dem Anreisehafen (mit Ergebnis vor dem tatsächlichen Einsteigen) vorweisen muss. Das Ergebnis für einen vom Agenten in Japan organisierten PCR- Test bekommt man nun aber erst nach 24 Stunden oder später (z.B. nicht am Wochenende oder an Feiertagen) - plötzlich brauchten Einsteiger mindestens zwei Tage Vorlauf, und wehe, wir hatten die japanischen Feiertage nicht im Blick. Einen Ausweichhafen für das Anmustern gab es nicht, da in Südkorea eine 14-tägige Quarantäne nach Ankunft des Fluges erforderlich ist. Aussteigen funktioniert hingegen nicht in Japan (unsere vorhergehende Seereise ist regulär kürzer als 14 Tage), dafür aber in Pusan, wo man sehr rechtzeitig Bedarf an Plätzen in der Quarantäne-Unterkunft anmelden muss, die meist von den Aussteigern gar nicht benötigt werden, weil sie nach negativem PCR-Test (seit neuestem mit Probennahme während der Einklarierung an Bord) auch direkt zum Flughafen gebracht werden dürfen... jedoch nur per Privattransport in ca. sechs Stunden per Auto nach Seoul. Inlandsflüge von Pusan sind für Seeleute verboten und internationale Flüge von dort komplett gestrichen. Letzte Reise hielten sich die Formalitäten in Grenzen, diesmal musste jeder Aussteiger die koreanische Gesundheitsapp auf seinem Smartphone installieren (und der Agent die Telefone zur Überprüfung zum Zoll bringen), aber auf vielen Telefonen war das technisch nicht möglich dies Problem ließ sich in einer längeren Sitzung lösen, indem der Agent Miettelefone anbot und für die acht Aussteiger mit ihren persönlichen Daten fütterte.
Hong Kong hatte zunächst sehr (zu?) lockere Regeln, bis es nach etlichen Corona-Fällen bei wartenden Besatzungsmitgliedern eine 180°-Wende gab und Bedingungen eingeführt wurden, die einen Crewwechsel innerhalb der üblichen Liegezeit quasi unmöglich machen: Der Flug der Einsteiger darf erst landen, wenn das Schiff tatsächlich im Hafen fest ist (oder sich auf der Quarantäne-Reede am Anker gemeldet hat), dann findet in einem Quarantänezentrum ein PCR-Test statt, und die Crew darf erst nach acht bis zehn Stunden, wenn das Ergebnis vorliegt, ihr Gepäck in Empfang nehmen und von der Agentur abgeholt werden. Aussteiger müssen vom Schiff direkt zum Flughafen gebracht werden, wobei für Filipinos und Inder (wegen der häufigen Flugstreichungen) nicht einmal die sonst gültigen maximal zwölf Stunden Wartezeit nach Auslaufen des Schiffs erlaubt sind, sondern sie schon vor unserem Auslaufen eingecheckt sein müssen. Bei einer Liegezeit von zwölf bis 14 Stunden und derzeit nur ein oder zwei Flügen pro Tag von und nach Manila schafft man es ohne zusätzliche Liegezeit am Anker, die der Fahrplan hergeben muss, nicht einmal, die Einsteiger an Bord zu bekommen, und an eine Übergabezeit an Bord ist gar nicht erst zu denken.
In Brisbane war zuerst eine 14-tägige Isolation verpflichtend, sie musste aber nicht zwingend vor dem Einsteigen erfüllt sein, sondern konnte an Bord fortgesetzt werden. Ein in Isolation befindliches Besatzungsmitglied darf aber nicht mit anderen zusammen arbeiten, also musste der Aussteiger, wenn es sich um eine vom Minimum Safe Manning vorgeschriebene Position handelte, so lange an Bord bleiben, bis die 14 Tage erfüllt waren (das hieß für uns bis Asien, da Brisbane unser letzter Hafen an der Küste ist). Neuerdings wird diese Regel nicht mehr so strikt gehandhabt, nun müssen Einsteiger aber mindestens fünf Nächte im Quarantänehotel bleiben und negativ getestet sein, bevor sie an Bord dürfen, die Übergabezeit an Bord wird auf vier Stunden begrenzt, und selbst bei Buchung über vier Wochen im voraus bekommt man nur mit sehr viel Glück einen Flug, weil die Gesamtzahl der einreisenden Passagiere streng begrenzt ist.
Scheinen nun all die Fragen für eine Ablösung tatsächlich geklärt zu sein, dann kommen die ganz normalen Unwägbarkeiten der Seefahrt ins Spiel: Der Liegeplatz ist nicht frei oder das ETA kann wegen verspäteten Auslaufens aus dem vorherigen Hafen nicht gehalten werden - schon ist ein einkommender Flug nicht mehr erlaubt, weil das Schiff leider eine Stunde zu spät an der Pier ankommen wird - , der Hafen wird wegen eines Taifuns geschlossen oder der Fahrplan ist schlicht noch nicht verfügbar, wenn man eigentlich schon Flüge buchen müsste. Jeder einzelne Wechsel gelingt daher nur mit einer Unmenge von Emails und Telefonaten, mit viel Einsatz und Flexibilität von Personalabteilung und Reiseagentur, Agenten und Planungsteam für unseren Liniendienst, schiffsseitig von mir und schließlich auch von den Einsteigern.
Soweit zur mühseligen Organisation des Crewwechsels - was diese Unplanbarkeit aber menschlich bedeutet, wird erst mit einem Blick auf die Entwicklung der Ablöseplanung bis zum Aussteigen, wie sie einzelne Besatzungsmitglieder erlebt haben, wirklich deutlich: Für unseren Koch war für Ende Juli ein Ablöser verfügbar, die Flüge waren gebucht und er freute sich, gleich drei Geburtstage daheim mit seiner Familie feiern zu können, als drei Tage vor dem Ausstiegsdatum die Nachricht kam: "Ablöser positiv getestet, kann nicht einsteigen, andere Köche können die Quarantänezeit nicht rechtzeitig erfüllen.". Also eine weitere Rundreise bis Asien (Brisbane war noch nicht möglich). Im August und September gab es große Schwierigkeiten, die Besatzungsmitglieder aus den philippinischen Provinzen überhaupt erst nach Manila zu bekommen und gleichzeitig noch länger überfällige Kollegen, also konnte wieder kein Ablöser für unser Schiff eingeplant werden - die nächste Rundreise... und diese Reise verlängerte sich schließlich durch Verspätungen in Australien um weitere zwei Wochen, so dass unser Koch erst Anfang November nach fast genau zehn Monaten Fahrtzeit von Pusan aus nach Hause fliegen konnte. Ein OS-Deck hatte, ebenfalls nach einer vorhergegangenen Verschiebung um eine Reise, einen Ablöser und einen Heimflug, soweit war wieder alles bestens. Wegen der Bedingung, dass sein Flug zum Check-in geöffnet sein musste, bevor wir von der Reede aus Hong Kong verließen, fuhr sein Wassertaxi in Richtung Flughafen ab, ehe überhaupt klar war, ob sein Nachfolger negativ getestet und das Einsteigen erlaubt werden würde. So musste er noch bis kurz vor dem Check-in damit rechnen, doch wieder umkehren und an Bord zurückkommen zu müssen.
Und der Elektriker-Kadett stand schon mit gepacktem Koffer fix und fertig auf dem Hauptdeck, doch der Agent schüttelte den Kopf: nicht mehr genügend Zeit, um noch den Flug zu erreichen, weil der Liegeplatz etwas verspätet frei geworden war - und ein Alternativflug war nicht zu bekommen. Nach einer weiteren Achterbahnfahrt für die Nerven (erlaubt Sydney den Transit nach London? Das klärte sich erst einen Tag vor dem nächsten Ablöseversuch) durfte er glücklich in Brisbane von Bord, musste aber wegen eines neuen, 72 Stunden vor Abflug auszufüllenden Formulars noch eine dreitägige Wartepause in London einlegen... und dass die beste Flugverbindung von Brisbane über Sydney und London nach Mumbai führte, spricht auch für sich selbst. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich wie am 8.11. in Pusan riesig darüber freuen würde, sehr gute Besatzungsmitglieder zu verabschieden und die Gangway hinuntergehen zu sehen - aber nun war es ein wunderbares Gefühl, sie loszuwerden, waren sieben von acht doch die letzten Überfälligen, die sich endlich auf den Weg nach Hause machen konnten. Und dabei hatten wir noch Glück mit maximalen Fahrtzeiten von gut zehn Monaten. Für viele wäre das vor einem Jahr noch unvorstellbar lange gewesen, und jetzt war es eher Anlass zur Freude, dass hier an Bord niemand die Rekordzeiten von 12, 15 oder sogar 18 Monaten (ein Chief auf einem Bulkcarrier, wie uns der Lotse in Brisbane berichtete) erreicht hat.
Damit bin ich bei der dritten Herausforderung, dem Wohlergehen der Crew. Wir alle wissen, wie schnell an Bord die Stimmung kippen kann, und ich war beim Einsteigen ehrlich gesagt recht besorgt, wie die die einzelnen Besatzungsmitglieder zurechtkommen würden mit der heftigen Mischung aus so unterschiedlichen Belastungen wie der Sorge um ihre Familien, dem überlangem Einsatz an Bord und der völlig ungewissen Ablösesituation oder dem in allen unseren Häfen verbotenen Landgang. allen unseren Häfen verbotenen Landgang. Schnell wurde deutlich, dass die Einsatzzeit an Bord ganz und gar nicht entscheidend war - zwei Kollegen haben gekündigt und mussten auch nach meiner Einschätzung ganz dringend von Bord, weil sie, obwohl noch innerhalb der regulär vereinbarten Vertragsdauer, einfach nicht mit dieser Situation klargekommen sind, andere waren, obwohl ebenfalls noch nicht oder nicht lange überfällig, durch die fehlende Ablöseperspektive so deprimiert, dass sie bald täglich Zuspruch und Aufmerksamkeit brauchten, ein anderer verlängerte hingegen freiwillig, weil er Angst hatte, in seine heftig von Corona gebeutelte Heimat zurückzukehren, und ausgerechnet derjenige mit der längsten Einsatzzeit nahm die Lage mit völligem Gleichmut hin und arbeitete einfach wie gewohnt und ohne Erschöpfung zu zeigen weiter (wenn nicht sogar besser als zu Anfang seines Einsatzes). Sehr geholfen hat eine gänzlich offene und ehrliche Kommunikation, selbst wenn es schlechte Aussichten mitzuteilen galt. Es wurde einhellig begrüßt, dass ich regelmäßig im Klartext die Lage erklärt habe, egal wie schlecht es aussehen mochte, weil alle die Ungewissheit und das Warten schlimmer fanden als zu wissen, dass es für eine Ablösung nur ganz geringe Chancen gab, woran das lag und welche Probleme ich gerade zu lösen versuchte. Und das eigentlich eher lästige Fiebermessen, zu dem jeder morgens und abends auf der Brücke antraben muss, erwies sich als durchaus stimmungsfördernd, weil plötzlich Ingenieure interessiert den Sonnenuntergang betrachteten, der Koch sich die Verkehrslage erklären ließ oder der Motormann gemeinsam mit Fitter und OS-Deck die Symbole auf der elektronischen Seekarte zu entschlüsseln versuchte, sich viele persönliche Gespräche ergaben - und ich die Gelegenheit hatte, nach besonders müden Gesichtern oder einem fehlenden Lächeln zu schauen und sehr frühzeitig zu bemerken, wenn bei jemandem die Stimmung abzusacken drohte. Auch kostenlose SIM-Karten für eine bessere Kommunikation mit den Lieben daheim (oder für das Herunterladen von Filmserien, die die Crew anschließend gemeinsam schaute), Bingo- oder Grillabende und bei der Arbeit das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse (wer möchte lieber mehr arbeiten, um zusätzliches Geld zu verdienen und sich abzulenken, wer hat etwas mehr Ruhezeiten nötig?) halfen natürlich, allen die schwierige Zeit ein wenig zu erleichtern, aber am wichtigsten war doch, dass sich die allermeisten sichtbar Mühe gegeben haben, einander zu unterstützen und zu ermuntern, mehr als üblich Rücksicht nahmen und sich auch um die Kollegen Gedanken machten.
Nach diesen ernsten und schwierigen Themen nun ein kleiner Ausflug zu den Kuriositäten:
In Qingdao kamen wir uns wie die Nebendarsteller in einem (eher schlecht gemachten) Film vor: Die Behörden kamen im Vollschutz an Bord, dann musste jeder einzeln draußen antreten, sich seinen Pass mit der aufgeschlagenen Bildseite sowie die ausgefüllte Gesundheitserklärung vor die Brust halten, einer der Herren maß die Temperatur, und ein weiterer fotografierte dieses Stillleben, wobei natürlich sämtliche Bestandteile sichtbar angeordnet sein mussten - und das war keine ganz einfache Koordinationsaufgabe.
Und weil die Kommunikation unter Maske und Face Shield so mühselig war, beugte sich der dritte der Behördenvertreter dann besonders dicht an mich heran und wollte mir seinen eigenen Stift zum Unterschreiben der Papiere in die Hand drücken, nachdem vorher jegliche versehentliche Annäherung energisch abgewehrt wurde.
Ein Lotse, der freiwillig die Außentreppe hinaufstieg und auch sonst sämtliche Regeln übergründlich einhielt, sicherheitshalber praktisch nicht mit uns sprach und sich alle paar Minuten die Latexhandschuhe mit Desinfektionsmittel abrieb, schien perfekt mit Schutzanzug inklusive Kapuze, Handschuhen und KN95-Maske ausgestattet zu sein - bis mir auffiel, dass die vordere Naht der Maske über die gesamte Länge aufgeplatzt war.
Ein anderer Lotse sagte statt einer Begrüßung als allererstes, er sei gerade gestern geimpft worden. Auf meine interessierte Nachfrage, was es denn für eine Impfung sei, ob mit einer oder mehreren Dosen und ab wann sie wirken würde, schaute er mich höchst irritiert an und meinte: "Vielleicht schon ab heute?".
Eine Gangway ist offensichtlich eine üble Virenschleuder, verliert diese Eigenschaft aber, sobald die Vertreter der Quarantänebehörde sie einmal hinauf- und wieder hinuntergegangen sind: Während das Anbordkommen der Hafenarbeiter über die Gangway wegen des Infektionsrisikos strikt verboten ist, solange das Schiff nicht freigegeben wurde, scheint es völlig harmlos und risikofrei zu sein, mit dem Spreader an Deck gesetzt zu werden, auf dem Hauptdeck bis zur Gangway zu gehen und sich dort von der Besatzung Laschwerkzeuge geben zu lassen.
Und wusstet Ihr eigentlich, dass das Manövrieren des Rettungsboots im Wasser die Corona-Gefahr gegenüber dem Ausschwingen und Fieren bis zur Wasserlinie erheblich erhöht? Nein? Muss aber so sein, denn in Sydney ist letzteres erlaubt, ersteres aber mit dem deutlichen Hinweis auf COVID-19 verboten. Außerdem darf man sich maximal genau 13 m von der Pierkante entfernen, wenn man den Tiefgang ablesen oder sonstige wichtige Arbeiten auf der Pier erledigen muss. Über diesen Abstand hinaus scheint sich das Infektionsrisiko ebenfalls schlagartig zu erhöhen.
Nach diesem Absatz zum Schmunzeln will ich noch von einigen besonderen und erfreulichen Erlebnissen berichten.
Ein riesiges Lob und Dankeschön verdienen die Seemannsmissionen in Australien, die sich fantastisch dafür einsetzen, dass die Seeleute so gut wie irgend möglich versorgt werden: SIM-Karten werden besorgt und auf Kredit gegen spätere Bezahlung zum Schiff geschickt, in Brisbane hat man einen kleinen Online-Shop aus dem Nichts aufgebaut, die Lieferung und alle (mühseligen) Formalitäten mit dem Zoll werden selbstverständlich organisiert, und in Melbourne werden nicht nur individuelle Crew- Einkaufswünsche von Socken über Fischölkapseln bis hin zu Kuchen und Keksen erfüllt, sondern es gab im August zu den SIM-Karten, die wir bezahlt haben, auch noch ein Care-Package: Das Team lieferte für jedes Besatzungsmitglied einen großen Beutel mit Zahnpasta und anderen Hygieneartikeln, ein paar selbstgebackenen Keksen, je einem Buch, kleinen australischen Souvenirs, Taschentüchern und einem Fläschchen Desinfektionsmittel... und auch noch einen freundlichen, handgeschriebenen Gruß dazu (und für die zwei Frauen an Bord zusätzlich je einen riesigen bunten Schal). So schnell wie diese Lieferung kann kein Generalalarm die Crew versammeln, und die Gesichter strahlten wie an Weihnachten - wegen der Geschenke, aber mehr noch, weil jemand an sie gedacht hatte und sich die Mühe gemacht hatte, eine Überraschung vorzubereiten und an Bord zu senden. Sämtliche Lotsen in Australien erkundigen sich nicht nur intensiv danach, wie die Situation an Bord und in den jeweiligen Heimatländern ist, wie lange der Rudergänger schon an Bord ist oder der Wachoffizier und wie alle klarkommen, sondern lassen ihre Visitenkarten da und bieten an, Besorgungen zu organisieren (einer erzählte mir, es gäbe kaum etwas, was sie nicht hinbekommen würden, sie hätten gerade ein Schiff mit einer neuen Tischtennisplatte versorgt, wir sollten also nicht zögern, auch ungewöhnliche Wünsche zu äußern).
Ein Agent hat sich dadurch hervorgetan, dass er wirklich akribisch dafür gesorgt hat, für einen Besatzungswechsel sämtliche Schwierigkeiten rechtzeitig auszuräumen - da kam abends um 22 Uhr noch schnell eine Mail mit einer wichtigen Information und morgens schon der nächste Anruf, er habe dieses und jenes Problem inzwischen klären können... und auch wenn ich sonst den Kommentar "don't worry" nicht besonders gut leiden kann (z.B. als Antwort auf die Sachfrage, wieviel Meter Abstand man am Liegeplatz zum Vordermann haben wird), war sein "Don't worry, we will make it happen!" sehr beruhigend und vor allem zutreffend.
Nun muss ich eiligst in die Koje, um mich morgen früh wieder halbwegs ausgeruht um das Schiff und unter anderem um die nächste Ablösung kümmern zu können (diesmal geht es um meine eigene, da ich tatsächlich die längste Zeit von allen an Bord bin und hoffen darf, von Brisbane aus nach Hause zu fliegen, falls sich auch diesmal alle Puzzlesteine zusammenfügen), aber dieser Bericht darf ohne ein weiteres positives Erlebnis nicht schließen: Es war einfach unglaublich, wie die letzten fünf überfälligen Filipinos (2 Matrosen, 2 Motormänner und der Koch, allesamt waren von der zweiten Dezember- bzw. ersten Januarhälfte bis zum 8. November an Bord) mit unendlicher Geduld, ohne ein Wort der Beschwerde oder des Unmuts und ohne das Lächeln und die gute Laune zu verlieren auf ihre Ablösung gewartet haben - der Koch hat noch am vorletzten Einsatztag Kekse gebacken, damit wir während der Kanmon-Passage etwas nettes zu essen hatten, und hat zum Abschied selbstgemachte Frühstücksbrötchen hinterlassen. Toll, wenn man so eine Crew hat, das hilft, auch große Herausforderungen wie die derzeitige zu bewältigen und motiviert dazu, sich selbst doppelt und dreifach einzusetzen.
Seid ganz herzlich gegrüßt, ob auf See oder an Land - bleibt bitte gesund, passt auf Euch selbst und auf Eure Mitmenschen auf, versucht, das Beste aus dieser schwierigen Zeit zu machen, habt gerade oder trotz allem frohe Weihnachtstage und einen guten Start in das neue Jahr, und um es mit dem ABS-Besichtiger aus Melbourne zu sagen "I really hope we will meet soon without scaring each other.".
SF (z.Zt. auf der Santa Catarina / unterwegs nach Sydney)